LaGa-SaGa-der-Kelch-im-Rahmen-Landesgartenschau-2026-Bad-Nenndorf-transparent

Zurück zur wilden Seele

Es war ein Nachmittag wie jeder andere für Tina Krümelmann. Die Einkaufstaschen wie gewohnt in der einen Hand, die Liste fein säuberlich abgearbeitet in der anderen. Sie huschte durch die Gänge des Supermarkts, den sie seit Jahren Woche für Woche besuchte. Die gleichen Produkte landeten im Wagen: Nudeln, Tomatensauce, Äpfel – keine grünen natürlich, die mochte sie nicht und hatte es vor Jahren entschieden. Es war ein perfekt orchestrierter Ablauf, der wenig Raum für Überraschungen ließ.

Draußen auf der anderen Straßenseite stand Nennia. Die Hüterin der Süntelbuchen hatte Tina schon eine Weile beobachtet, ihre eiligen Schritte und das angespannte Gesicht. Sie sah die Frau, die einst ein kleines, wildes Mädchen gewesen war, das stundenlang durch den Wald streifte, nach Pilzen suchte und die Geheimnisse der Natur erforschte. Doch dieses Mädchen schien irgendwo zwischen Haushaltslisten, Trachtenvereinen und den Erwartungen der Gesellschaft verloren gegangen zu sein.

Am Eingang des Supermarkts war ein Stand mit kleinen Probiergläsern aufgebaut – Apfelsaft, frisch gepresst, wie ein handgemaltes Schild versprach. Tina blieb kurz stehen, nicht weil sie wirklich interessiert war, sondern weil sich das gehört. „Ist ja umsonst“, murmelte sie sich selbst zu, während sie einen schnellen Blick auf den Stand warf. Die Gläser standen in Reih und Glied, gefüllt mit goldener Flüssigkeit.

Nennia, die Tina genau im Blick hatte, schritt leise näher. In ihrer Hand hielt sie ihren Zauberstab, den Kelch an der Spitze funkelnd im Sonnenlicht. Sie wusste, dass Tina das kleinste Glas wählen würde, weil es sich nicht schickte, zu viel zu nehmen. Mit einer geschickten Bewegung ließ sie einen Tropfen der magischen Quelle in das Glas mit dem wenigsten Apfelsaft gleiten und stellte es etwas abseits. Dann zog sie sich leise zurück, ein Lächeln auf den Lippen.

Tina griff, wie Nennia vorausgeahnt hatte, nach dem kleinsten Glas, trank einen Schluck und spürte plötzlich, wie sich etwas in ihr veränderte. Ein warmes, wohliges Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus, wie ein sanftes Glühen. Sie schloss kurz die Augen, und vor ihrem inneren Auge tauchten Bilder auf: ein Wald, durch den sie als Kind lief, die Sonne, die durch die Baumwipfel brach, und der Duft von frischen Pilzen, den sie über alles liebte. Sie erinnerte sich an die blaubeerbefleckten Finger, das Lachen, das durch die Bäume hallte, und die Freiheit, die sie damals empfunden hatte – eine Freiheit, die sie längst vergessen hatte.

Mit einem Mal fühlte Tina sich jung, wild und unbeschwert. Sie sah hinunter in ihren Einkaufswagen, auf die gleichen Produkte wie immer, und griff ohne nachzudenken nach einer Packung frischer Steinpilze, die sie in den Wagen warf. Sie gehörten nicht zur Liste, aber das war ihr egal. Ein kleines Lächeln spielte um ihre Lippen, während sie die Steinpilze betrachtete.

Nennia, die aus einer Gasse beobachtete, nickte zufrieden. „Ach Tina,“ flüsterte sie leise, „das ist erst der Anfang. Bald wirst du dich erinnern, wie es ist, wirklich zu leben – für dich selbst, nicht nur für andere.“

Tina spürte es nicht sofort, aber etwas in ihr hatte sich verändert. Es war, als hätte jemand die Tür zu einer längst vergessenen Welt einen Spalt weit geöffnet. Sie wusste nicht, dass dieser eine Schluck Apfelsaft der Anfang einer Reise war – einer Reise zurück zu ihren Träumen, ihren Wünschen und zu dem Mädchen, das sie einst gewesen war.

Wenn du in einem Wald leben könntest wie Tina es sich als Kind wünschte, was würdest du sammeln oder entdecken?