Am selben Morgen, tief im geheimnisvollen Deisterwald, öffnete Nennia die Augen.
Sie war die Hüterin der Süntelbuchen – und der Wald war ihr Zuhause.
Der Deister war kein gewöhnlicher Wald. Er war ein besonderer Ort. Die Bäume waren alt und groß, ihre Äste reichten bis in den Himmel. Das Gras raschelte, als würde es flüstern. Und manchmal konnte man Magie in der Luft riechen – ganz fein und süß.
Die Sonne kitzelte gerade durch das Blätterdach. Ein leichter Sommerregen hatte in der Nacht auf ihre Kleidung getrommelt – sie war aus Pflanzenfasern, handgewebt. Aber jetzt, in der Morgensonne, trocknete alles schnell.
Nennia streckte sich, atmete tief ein – und lächelte.
Ihre Haare waren dunkelblond und wellig, ihre Augen so klar wie Wasser. Von oben, aus den Ästen dieses Baumes, konnte sie das ganze Land sehen. Ganz weit unten lag Bad Nenndorf – das Dorf mit den kleinen, roten Dächern, das sie so gut kannte.
Nennia griff in ihren kleinen Beutel. Er war aus Leder und mit Mustern verziert, die Geschichten erzählten.
Sie holte einen roten Apfel heraus und biss hinein.
Knack! So schmeckte der neue Tag.
Unten im Dorf begann das Leben: Türen gingen auf, Kinder mit bunten Schulranzen lachten und rannten über das Kopfsteinpflaster. Erwachsene gähnten, winkten sich zu, trugen Taschen, fegten Stufen, öffneten Läden.
Nennia spürte ein Kribbeln in ihrem Bauch. Es war so weit.
Sie sprang leise vom Baum, huschte wie ein Schatten über den Waldboden und kletterte im Dorf auf einen anderen Baum – mitten im Ortskern.
Von dort oben beobachtete sie die Menschen.
Sie sah, wie sie die bunten Plakate entdeckten – genau die, die sie in der Nacht überall heimlich aufgehängt hatte.
Menschen blieben stehen. Zeigten auf die Farben. Tuschelten. Fragten sich, wer das gemacht hatte.
Nennia lächelte.
„Es hat funktioniert“, flüsterte sie leise.
Aber nicht alle freuten sich.
Einige Menschen schauten skeptisch. Ihre Stirn war in Falten gelegt.
Manche fanden das Bunte zu seltsam, zu fremd.
Das machte Nennia ein bisschen traurig.
Aber sie flüsterte:
„Ihr werdet euch erinnern – an die Freude. An eure Träume. An das, was euch verbindet. Wir schaffen das. Zusammen.“
Viele im Dorf hielten Nennia für ein Märchen.
Nur Kinder wie Bo und Jasper hatten sie manchmal im Wald gesehen –
zwischen Bäumen, mit einem Lächeln im Gesicht und funkelnden Augen.
Nennia war schon immer da gewesen.
Sie wurde nicht älter, so wie die Menschen. Sie war einfach… immer genau jetzt.
Deshalb feierte sie keinen Geburtstag. Sie hatte stattdessen ihren Nicht-Geburtstag – wann immer ihr danach war.
Sie erinnerte sich an viele aus dem Dorf, wie sie früher waren:
kleine Kinder mit aufgeschlagenen Knien, neugierig, wild, lachend.
Nennia kannte sie alle – Eltern, Großeltern, sogar Urgroßeltern.
Und jetzt war die Zeit gekommen.
Ihr Plan hatte begonnen.
Das Dorf erwachte – nicht nur am Morgen, sondern auch im Herzen.
Nennia zog sich still in den Wald zurück.
Der Tag war jung.
Und das Abenteuer hatte gerade erst begonnen.
Was denkst Du, was mögen Jasper und Bo am liebsten an Nennia?