Es war ein kühler Morgen im Frühling, als die ersten Strahlen der Morgensonne vorsichtig über die sanften Hügel von Bad Nenndorf krochen. Der Nebel hing noch wie ein leichter Schleier über den grünen Feldern, und der Duft von feuchtem Gras lag in der Luft. Die Gassen des Dorfes, mit ihren alten Kopfsteinpflasterwegen und den dicht aneinander gedrängten Fachwerkhäusern, schienen im sanften, goldenen Licht zu schimmern. Jedes Fenster und jeder Garten erwachten langsam aus der Nacht, während die Vögel in den Bäumen sangen und den neuen Tag willkommen hießen.
Doch an diesem Morgen war etwas anders. Über Nacht hatte sich das beschauliche Bild des Dorfes verändert. Große, handgemalte Plakate waren an verschiedenen Stellen aufgetaucht – leuchtend in Rot, Blau, Gelb und Grün, verziert mit verspielten Mustern und wirbelnden Linien, die die Augen förmlich dazu einluden, innezuhalten und genauer hinzusehen. Die Worte „Wir laden dich ein nach Bad Nenndorf“ standen in verschnörkelter Schrift in der Mitte, umrahmt von künstlerischen Verzierungen, die fast wie von Kinderhand gemalt wirkten, und doch eine geheimnisvolle, fast magische Aura ausstrahlten.
Am Marktplatz, wo die jahrhundertealte Eiche stolz in der Mitte stand und ihre knorrigen Äste wie schützende Arme ausbreitete, öffnete Heinz Krümelmann seinen kleinen Kiosk. Der Platz war zu dieser frühen Stunde noch still und friedlich. Die weißen Bänke um den Brunnen waren leer, und nur das gelegentliche Zwitschern der Spatzen, die sich in den alten Ästen der Eiche niedergelassen hatten, durchbrach die Ruhe. Heinz war ein kleiner Mann , 66 Jahre alt , mit einem markanten Gesicht, das von Lachfalten durchzogen war, und grauen Haaren, die unter seiner dunklen Schiebermütze hervorlugten. Er war früh auf den Beinen, wie jeden Morgen, bereit, seine Stammkunden mit frischen Zeitungen und dem neuesten Dorftratsch zu versorgen. Doch heute hielt er inne, als er den Rollladen seines Ladens hochzog. Sein Blick fiel auf eines der Plakate, das direkt gegenüber an der alten Eiche befestigt war. Die Farben sprangen ihm sofort ins Auge, sie wirkten so lebendig und kraftvoll im Morgenlicht. Heinz kratzte sich nachdenklich am Kopf und trat näher. Seine blauen Augen studierten die geschwungene Schrift und die auffälligen Muster. „Was hat der Bürgermeister da schon wieder vor?“ murmelte er in seinen rauen Bart und schüttelte leicht den Kopf. Seine Hände, rau von der jahrelangen Arbeit, ruhten auf den Hüften, während er das Plakat aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtete. Heinz war neugierig, aber er konnte sich keinen Reim darauf machen. Irgendetwas an diesen Plakaten fühlte sich anders an, fast wie ein geheimes Versprechen, das in der Luft lag.
Zur gleichen Zeit, ein paar Straßen weiter, machte sich Bürgermeister Jürgen Gießen auf den Weg zu seiner morgendlichen Runde durch das Dorf. Jürgen war ein Mann von mittlerer Größe, stets ordentlich gekleidet in seinen grauen Anzug, den er auch bei diesen Spaziergängen trug. Sein Haar, das sich bereits an den Schläfen in Silber verwandelte, war immer akribisch gekämmt. Sein treuer Begleiter, ein kleiner Rauhaardackel mit leicht grauer Schnauze, tappte neben ihm her, die Leine locker in Jürgens Hand. Jürgen war ein Mann der Gewohnheit. Jeden Morgen machte er dieselbe Runde durch das Dorf, ließ die geordnete Welt von Bad Nenndorf auf sich wirken und genoss die Stille, bevor der Trubel des Tages begann. Doch heute wurde seine Routine gestört. Als er an der Bushaltestelle vorbeikam, hielt er abrupt inne. Seine Augen weiteten sich, als er das Plakat erblickte, das an der alten Holzwand befestigt war. Das bunte Kunstwerk stach zwischen den verwitterten Fahrplänen und den verblassten Plakaten vergangener Veranstaltungen hervor wie ein Schmetterling im Sonnenlicht. Jürgen runzelte die Stirn, sein sonst so ernster Gesichtsausdruck verdüsterte sich noch mehr. „Davon wusste ich nichts“, brummte er leise und schüttelte kaum merklich den Kopf. Er zog die Leine seines Dackels ein wenig straffer, der ungeduldig an seinem Bein zupfte, und setzte seine Runde fort, während seine Gedanken bei dem Plakat hängenblieben. „Das kann doch nicht sein…“, murmelte er weiter. Irgendetwas stimmte nicht.
Währenddessen tollten Bo und Jasper, zwei fünfjährige Jungen mit grenzenloser Energie, durch die engen Gassen des Dorfes. Bo, ein Junge mit dunklen Haaren, trug immer ein Cap mit einem Schiff und hatte immer einen Schalk im Nacken. Jasper, der etwas kleinere und rundlichere der beiden, zeichnete sich durch seine auffälligen roten Haare und Sommersprossen aus. Die beiden waren bekannt dafür, überall unterwegs zu sein und in jedes Abenteuer zu stolpern, das sich ihnen bot. „Hey Bo, guck mal!“ rief Jasper aufgeregt, als sie an einem Laternenpfahl vorbeikamen, an dem ein weiteres Plakat hing. Die Farben leuchteten förmlich in den Augen der Jungen. „Was steht da?“ fragte Jasper neugierig, während er sich auf die Zehenspitzen stellte, um einen besseren Blick auf das Plakat zu werfen. Bo legte den Kopf schief, versuchte die verschnörkelte Schrift zu entziffern, aber seine Lesefähigkeiten reichten noch nicht aus. „Keine Ahnung, aber sieht cool aus“, antwortete er schließlich und lachte, bevor er mit einem Sprung weiterlief. Jasper folgte ihm kichernd und ließ das Plakat hinter sich.
Inzwischen machte sich Dorflin, ein schlaksiger, blonder Junge mit Brille, auf den Weg zur Schule. Er lebte am Rande des Waldes, wo die Bäume des Deisters dicht und majestätisch in den Himmel ragten. Als er durch die Gassen schlenderte, fiel ihm eines der Plakate ins Auge, das an einer verwitterten Fachwerkfassade hing. Dorflin war von Natur aus ein nachdenklicher und neugieriger Junge. Er blieb stehen, schob seine Brille auf der Nase zurecht und betrachtete die kunstvolle Gestaltung des Plakats. Es weckte etwas in ihm, eine Neugier, die er nicht ganz erklären konnte. Die verspielten Muster und die geheimnisvolle Einladung wirkten wie ein Rätsel, das darauf wartete, gelöst zu werden. „Was soll das bedeuten?“ fragte er sich flüsternd und zog sein Notizbuch aus der Tasche. Schnell skizzierte er das Plakat, bevor er seinen Weg fortsetzte, den Blick immer noch auf das Bild gerichtet, das ihn nicht losließ.
Im gesamten Dorf verbreitete sich die Nachricht von den mysteriösen Plakaten wie ein Lauffeuer. Menschen blieben stehen, um die Plakate zu betrachten, und begannen, miteinander zu diskutieren. In der Bäckerei, im Café, auf dem Marktplatz – überall hörte man die gleichen Fragen: „Wer hat die Plakate aufgehängt?“ „Was bedeutet diese Einladung?“ „Warum weiß niemand etwas darüber?“ In der Schenke von Carlos Pegel, die langsam zum Treffpunkt für Neugierige wurde, herrschte bereits reger Betrieb. Die dicken Holztische waren von Einheimischen und Besuchern besetzt, die über die Plakate spekulierten. Carlos, ein großer Mann mit einem markanten Lächeln und dunklen, leicht ergrauten Locken, lehnte sich lässig an den Tresen und beobachtete das Treiben mit verschmitztem Interesse. „Ach, das ist bestimmt nur eine Kunstaktion von Studenten“, meinte eine ältere Frau, die ihren Kaffee umrührte. „Vielleicht sind es die Jugendlichen. Die machen doch immer so seltsame Sachen“, warf ein Mann ein und schüttelte dabei den Kopf. Carlos lächelte nur und sagte mit einem geheimnisvollen Zwinkern: „Wer weiß, vielleicht ist es etwas Magisches. In Bad Nenndorf ist alles möglich.“
Als der Tag sich dem Ende neigte und die Sonne hinter den sanften Hügeln verschwand, wurde das Dorf in ein tiefes, beruhigendes Orange getaucht. Die Straßenlaternen warfen ihr warmes Licht auf die verlassenen Gassen, und die Plakate schimmerten im Schein der Lampen. Ein Hauch von Magie lag in der Luft, als der erste Stern am klaren Nachthimmel aufleuchtete. Niemand konnte ahnen, dass dies der Beginn eines großen Abenteuers war – ein Abenteuer, das die Gemeinschaft von Bad Nenndorf auf eine Reise führen würde und das Leben der Dorfbewohner für immer verändern sollte.