Dorflin saß an einem alten Holztisch in seinem Zimmer, vor ihm lag das aufgeschlagene Mathebuch. Doch seine Gedanken beschäftigten sich keineswegs mit den Zahlen und Formeln. Die Nummern verblassten vor seinen Augen, stattdessen formten seine Gedanken Bilder von einem anderen Ort. Es waren Bilder von einem geheimnisvollen Wald mit uralten, knorrigen Bäumen und einer unbeschreiblichen Magie. Statt mit dem Bleistift in seiner Hand die Matheaufgabe zu lösen, zog er einem inneren Impuls folgend seinen Zeichenblock heran und begann feine Linien auf das Papier zu setzen. Er zeichnete die Süntelbuchen. Die stillen Wächter des Waldes waren seine liebsten Bäume, die ihn schon immer magisch angezogen hatten. Denn sie waren anders als alle anderen Bäume, die er kannte. Ihre Äste wandten sich und krümmten sich umeinander, fast so, als würden sie zu einem geheimen Muster verschmelzen, das nur darauf wartete, entschlüsselt zu werden. “Vielleicht steckt wirklich Magie in ihnen”, dachte Dorflin und fühlte, wie sein Herz schneller schlug.
Er malte die verdrehten Äste wie lebendige Wesen und fügte kleine, leuchtende Punkte hinzu, die wie funkelnde Sterne zwischen den Blättern schimmerten. In seiner Vorstellung standen die Süntelbuchen wie alte, weise Zauberer zusammen, und ihre Äste bewegten sich sanft im Wind. Als würden sie ihn einladen, ihm ihre Geheimnisse und ihre Magie zu offenbaren.
Dorflin erinnerte sich an einen Tag vor nicht allzu langer Zeit, als er in der Süntelbuchenallee gewesen war. Es war ein ruhiger Herbstnachmittag gewesen und das goldene Licht der tief stehenden Sonne hatte die Allee in ein leuchtendes Rotgold getaucht. Die Schatten der Bäume hatten wie ein Geflecht von Geschichten und Legenden gewirkt, das sich über den Waldboden spannte. Dorflin hätte schwören können, dass in diesem Moment ein Flüstern in der Luft gelegen hatte, ein Klang, den nur die Süntelbuchen kannten. Und er war sich in diesem Moment ganz sicher, dass er nicht alleine gewesen war.
Verloren in diesen Gedanken flüsterte Dorflin: „Es könnte wirklich sein, dass ein Hauch von Zauber in der Luft schwebt.“ und legte den Stift beiseite. Entschlossen klappte er sein Mathebuch zu und nahm seinen Rucksack. Er konnte es gar nicht abwarten, zur Süntelbuchenallee zu gelangen, und rannte los. Über den Marktplatz, den Kurpark hinauf am Schlösschen vorbei bis hin zu dem Ort, an dem er sich eben noch in Gedanken aufgehalten hatte. Inmitten der Allee angekommen, hielt er inne und lauschte. Er hörte nur das Rauschen der Blätter, die sich durch einen leichten Windhauch hin und her bewegten. Er stand ganz aufmerksam da und nahm jedes noch so kleine Geräusch ganz intensiv wahr. Plötzlich hörte er ein leises Rascheln hinter sich. Dorflin drehte sich um und traute seinen Augen kaum. Vor ihm stand eine Gestalt, umhüllt von sanftem Licht der untergehenden Sonne, mit schulterlangen, dunkelblonden Haaren, die leicht im Wind wehten. Ihre Augen leuchteten wie ein klarer Bergsee und ihr Gesicht trug ein geheimnisvolles Lächeln. Es war Nennia, die Hüterin der Süntelbuchen.
„Du bist Dorflin, nicht wahr?“ fragte sie mit einer sanften, melodischen Stimme, die wie ein Lied klang, das einzig der Wald hätte komponieren können.
Dorflin brachte vor Staunen kaum ein Wort heraus. Er nickte, seine Augen groß und voller Neugier auf diese geheimnisvolle Erscheinung. Noch nie zuvor hatte er Nennia gesehen, doch er wusste sofort, dass sie es war. Die Luft um sie herum flimmerte – sie war von einer sanften, goldenen Aura umgeben, als ob die Magie des Waldes in ihrem Wesen lebendig war.
„Die Süntelbuchen haben Dich zu mir geführt,“ sagte sie leise und legte sanft eine Hand auf einen der verdrehten Äste. „Sie haben eine besondere Kraft. Eine, die nicht jeder spüren kann.“ Dorflin spürte ein Kribbeln, als Nennia ihre Hand auf den Baumstamm legte. Es war, als ob die Magie durch den Baum in die Erde floss und dann in den Boden unter seinen Füßen strömte. „Kann ich auch die Kraft der Bäume fühlen? Kann ich die Magie verstehen, so wie Du?“ fragte er zögerlich, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
Nennia lächelte. „Magie ist überall, Dorflin. Du musst nur lernen, sie zu sehen. Die Bäume sprechen zu uns auf ihre eigene Weise. Wenn Du die Augen und das Herz öffnest, wirst Du ihre Geschichten hören.“
Dorflin streckte zögernd die Hand aus und legte sie auf die raue Rinde der Süntelbuche. Im ersten Moment spürte er nur das kühle Holz, doch dann… ein sanftes Vibrieren, als ob der Baum tatsächlich lebte und ihm eine Botschaft senden wollte. Er schloss die Augen und hörte das leise Flüstern der Blätter, spürte das leise Pulsieren der Wurzeln tief unter der Erde. Es war, als ob die Süntelbuchen ihre Geheimnisse direkt in sein Herz flüsterten.
„Ich wusste es,“ flüsterte er, „ich wusste, dass sie besonders sind.“ Dorflin holte tief Luft. Er fühlte sich stark und mutig, als ob er tatsächlich dazu bestimmt war, die Welt zu entdecken. Nennia beobachtete ihn mit einem zarten Lächeln, in dem Stolz und das Gefühl einer Verbundenheit lagen.